Samstag, 8. November 2014

Amerika 8 - Verlockendes Cascadia



Von Washington über Chicago nach Portland/Oregon braucht es (mit Fliegerwechsel in Chicago) etwa 12 Stunden (allerdings kommen noch drei Stunden Zeitverschiebung hinzu, denn im Nordwesten, an der Westküste, beträgt der Zeitabstand nun insgesamt schon 9 Stunden im Vergleich zu Berlin). Kevin und Lisa holen mich ab, und obwohl ich Kevin gute 23 Jahre nicht gesehen habe, erkennen wir uns sofort wieder. Ihre Wohnung entpuppt sich als geräumiges kleines Townhaus, das zu einer größeren Anlage gehört, die im modernen Betonbaustil von außen wenig spektakulär aussieht. Innen jedoch gibt es viel Platz und sehr viel Licht und erstaunlicher Weise blicken die wandgroßen Wohnzimmerfenster hinter dem freistehenden modernen Kamin in einen kleinen Wald, den man draußen gar nicht wahrnimmt: Jede Menge Vögel und Squirrels geben sich auf dem Balkon ein munteres Stelldichein. 
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Das Frühstück am nächsten Morgen gibt es in einem großen Café, dass es so auch in Kreuzberg geben könnte: Es ist laut und voll und multikulturell eingerichtet und das Angebot an Bio-Leckereien aller Art ist riesig. Später fahren wir auf die bewaldeten Hügel, die es hier mitten in der Stadt gibt und blicken vom japanischen Garten aus auf eine quirlige, ziemlich kleinteilige Großstadt entlang des Willamette und des Columbia Rivers. Portland ist wunderbar grün, es gibt zwischen den umliegenden Bergen sogar Stadtteile, die regelmäßig von den Cougars, den hiesigen Berglöwen, besucht werden und deswegen partiell gesperrt werden müssen. Das Klima ist mild und ausgewogen, kaum Hitze, kaum Kälte, und die Nähe der Vulkankette um den nahen Mt. St. Helens sorgt für einen äußerst fruchtbaren Boden. Portland entpuppt sich als die Hauptstadt der alternativen Szene Nordamerikas; Kevin meint, seit San Franzisco teuer und kommerziell geworden ist, fliehen vor allem Künstler, Denker und Studenten hierher, in die Hauptstadt des nordwestlichen Ökotopias von Cascadia. Man spürt hier neben einem sehr zivilen europäischen Geist auch die Einflüsse des nahen Kanadas und – zu meinem Erstaunen – Japans. Dies ist eindeutig eine pazifische Stadt. Hier entstehen die neuesten Ökotrends: Weil es wenig große Industrie gibt, entstand ein Gewimmel an Kleinstunternehmen und Startups mit den phantasievollsten Ideen, und der hiesige Lebensstil unterscheidet sich deutlich vom amerikanischen Klischee: Es gibt Fahrradwege und Straßenbahnen, kurze Wege und unglaublich gutes und vielfältiges Essen (nicht nur in den Cafés und Restaurants, sondern auch an den Hunderten Food Trucks, die hier überall an den Ecken stehen). Es gibt eine landesweit berühmte Comedy-Filmserie, die den einflussreichen Lebensstil dieser amerikanischen Alternativmetropole aufs Feinste verulkt: Portlandia könnte zu weiten Teilen auch eine Satire auf die Bewohner des Prenzlauer Berges sein. (Kein Wunder, dass ich mich hier sehr zuhause fühle. Nur dass diese Stadt hier etwas übersichtlicher ist als Berlin und zudem noch eine großartige Natur und vor allem eine spektakuläre Landschaft hat!) Meine Lesung an der Portland State University jedenfalls (in einem großen Hörsaal mit Zuhörern von sehr jung bis Seniorenalter) wird trotz technischer Probleme ein voller Erfolg, den wir anschließend in einer der besten Seafood-Kneipen der Stadt, der alten Oyster Bar begießen. 

Am nächsten Tag fahren wir mit dem Auto in die Berge: Etwa eine Stunde hinter der Stadt erhebt sich der Mt Hood, dessen schneebedeckten Vulkankegel man bei guter Sicht auch von der Stadt aus sehen kann. Die Straßen werden steiler, die Nadelbäume riesig, irgendwann liegen die ersten Schneeflecken am Straßenrand. Und dann sehe ich, der ich noch nie in dieser Ecke der Welt gewesen bin, zu meinem großen Erstaunen plötzlich etwas sehr Vertrautes: Das Overlook Hotel aus einem der großartigsten Filme, die ich je sah (Stanley Kubricks „Shining“)! Breit und mächtig thront es mit seiner einmaligen Statur aus Giebeln und Holzschindeln unterhalb des Schneegipfels von Mt Hood. Wir betreten das Innere des gigantischen Gebäudes, das die Regierung von Oregon während der großen Depression errichten ließ: Holz und Stein erheben sich zu einem riesigen Gewölbe, der Kamin führt über drei Etagen, indianische Motive schmücken behutsam die karg ausgestatteten, weitläufigen Räume – es ist die riesigste Berghütte, die ich je gesehen habe. Hinter dem Hotel, das in Wirklichkeit Timberline Lodge heißt (und im Inneren sehr anders ausschaut als das fiktive Overlook Hotel aus dem Film) klettern wir ein wenig den Berghang hinauf – hier ist eines der beliebtesten Skigebiete der USA (und man kann sich gut Vorstellen, dass die Schneestürme und Verwehungen aus dem Finale des Kubrick-Filmes hier tatsächlich stattfinden). 

Am Nachmittag fahren wir hinunter und umrunden den Mt Hood auf einer Landstraße, die durch malerische Obstfarmen zum mighty Columbia River und hinüber in den Bundesstaat Washington führt. Auf der anderen Seite des Flusses ändert sich die Landschaft schlagartig: Langgestreckte dunkle Felsplateaus erheben sich rechts und links des Canyons (des Columbia Gorges), die Natur wird karg und weitflächig – statt mächtiger grüner Bäume nur noch sonnenblondes Steppengras. Und irgendwann sehen wir auf den sonnenbeschienenen Grashügeln tatsächlich Büffel grasen.  
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