Montag, 20. Oktober 2014

Amerika 2 - Der Virginia Effekt

Am Samstagmorgen lassen wir den lokalen Farmer’s Market aus und gleiten nach einem ruhigen Frühstück mit Johns und Marcels silbergrauen Hundai durch das schöne Virginia hinunter nach Charlottesville. Die Straßen sind zumeist dreispurig und es ist schwer auszumachen, wo die Stadt endet, denn überall gibt es noch Shopping Centers, Oulets oder Elementary Schools: Das all dies auf der grünen Wiese steht, scheint kein Problem zu sein – hier muss sowieso jeder Auto (oder notfalls Bus) fahren. Dann werden die Häuschen kleiner und hölzerner, überall zwischen den Wiesen und Wäldchen wohnen Leute. Was noch viel erstaunlicher ist: Ringsum überall ist der Rasen gemäht. Dies ist ein gut eingerichteter Planet: Ganz Virginia ist mit schönem kurzen Grünrasen bedeckt! Auch am Wald. Keine Wiesenblume, keine Grasrispe im Wind – dafür hier und da Grundstücksbesitzer auf ihren winzigen Rasenmähertraktoren sowie ab und zu Pferde oder Kühe auf kleinen Anwesen mit kleinen Holzhäuschen und großen Autos davor. (Obwohl: es fällt schon auf, dass inzwischen sehr viele asiatische und etliche europäische Mittelklasse- und Kleinwagen auf den Straßen der Ostküste unterwegs sind; auch Mercedes, VW und sogar die kleinen Fiats Cinquecento sieht man öfters.) Wir fahren vorbei an etlichen Battlefield Sites, wo Ausflügler des amerikanischen Unabhängigkeits- ebenso wie des Bürgerkriegs gedenken und wo alljährlich mit großem Tamtam die legendären Schlachten heute von Hunderten verkleideter Freiheitskämpfer nachgespielt werden – unter Anteilnahme aller Geschichtsversessenen der gesamten Nation. Die Schlachtfelder sind heute nicht viel mehr als grüne Wiesen auf Hügeln mit Gedenktafeln (und selbstverständlich weithin gestutztem Rasen). Die Straße führt in freundlichen Kurven hinab in den Südwesten, die Hügel und Wälder erinnern deutlich an Thüringen: Im Hintergrund erheben sich (gleich dem Thüringer Wald) die bewaldeten Rücken der Blue Ridge Mountains, hinter denen man hier und da auch das Tal des Shenandoa Rivers erahnen kann (jaja genau: Dort beginnen die CountryRoads von West-Virginia…). 

  Der thüringische Eindruck verstärkt sich, als wir uns nach anderthalb Stunden nahe Charlottesville dem Monticello-Anwesen von Thomas Jefferson nähern. Wir stellen das Auto ab und schauen uns im hölzernen Infocenter zunächst einen kurzen Film über Jefferson an, von dem wir unter großer Musik in sanftgoldenen Bildern erfahren, dass er es war, der die Gleichheit der Menschen und den „Pursuit of Happiness“ aus tiefster Überzeugung in den Entwurf der amerikanischen Verfassung geschrieben hat – etwas, das durchaus hollywoodreife Bilder und große Musik rechtfertigt. Und auch, wenn dieser Unabhängigkeitskämpfer und zweimalige Präsident es selbst nicht geschafft hat, seine vielen Landsklaven (deren stein- und namenloser Friedhof heute übrigens zwischen parkenden Wohnmobilen auf dem Touristenparkplatz liegt) freizulassen, so hat er doch heimlich mit einer seiner Haussklavinnen einige Kinder... Also wandern wir auf seinen Spuren unter großen amerikanischen Eichen über einen Wanderpfad einen Berg hinauf, der uns vorbei an einem kleinen umzäunten Wiesen-Friedhof auf eine Anhöhe führt. Vom Gemüsegarten (mit seiner rötlichen Erde, den Kräutern, Artischocken- und Tomatenstauden)  aus hat man einen herrlichen Blick über das Land;  Schautafeln und kleine Nebengebäude erklären das Landleben auf dem Wohnsitz des einstigen US-Präsidenten. Umstanden von weitausgreifenden, großen Bäumen liegt auf einer blumenumwachsenen Wiese ein roter dreiflügeliger Wohnbau mit einer repräsentativen Kuppel, eine Art Mini-Sanssouci im ländlich britischen Stil, mit Veranden, Pavillons und Kübelpflanzen ergänzt, ein wirklich angenehmer Bau an einem wunderbaren Ort. Wir umstreifen das Haus, lesen hier und da die Tafeln und schauen uns die Arbeitsräume der Sklaven an (Kinder dürfen am Bastelstand Jefferson-Figuren ausmalen) und würdigen Jeffersons vortreffliches Gespür für eine angenehme Lebensführung. Wir schauen und genießen ohne viele Worte den heiteren Tag und rascheln im rotgelben Laub des milde beginnenden Herbstes. 
Im Café müssen wir uns dann allerdings mit Sandwiches begnügen und Marcel wundert sich, dass ich tatsächlich mein Root-Bier (eine lokaler Monticello-Softdrink aus Wurzeln und Baumrinde, geschmacklich eine Art Hustensirup mit Kohlensäure) austrinke, dabei ist es nichts als eine Kindervariante des bayerischen Bärenblutschnapses… Später schlendern wir noch durch die  Innenstadt von Charlottesville, wo es eine der seltenen amerikanischen Fußgängerzonen gibt. Was auffällt: In den hiesigen Innenstädten gibt es sehr viele Antikshops und Edel-Trödler, darunter auch sehr attraktive Buchantiquariate. Marcel meint, die großen Ladenketten seinen hier absichtlich für die Innenstädte verboten; und Antikläden u.ä. seinen besonders gut geeignet, Leute in die Innenstädte zu locken, da man bei denen ja nie wüsste, was sie anbieten – also kommen und stöbern muss. Wir haben jedenfalls tatsächlich viel Vergnügen beim Stöbern. Gegen Abend fahren wir dann gemächlich zurück Richtung Atlantik nach Fredericksburg und gehen dort in einem Diner Abendessen, das „Mason Dickson“ heißt – nicht nach den Romanhelden von Thomas Pynchon, sondern nach der Vermessungslinie, die die beiden nördlich von hier einst festgelegt haben: Die dünne Linie, an der sich „der Norden“ und „der Süden“ der USA trafen und treffen. (Auch deshalb wurde diese Gegend zum historischen Grund – die beiden Parteien des amerikanischen Bürgerkriegs trafen an dieser Linie aufeinander.)
Übrigens: So lange ich nur schaue, und nicht jemand mit kaum verständlichem Akzent minutenlang in maschinengewehrartiger Geschwindigkeit auf mich ein redet, fühle ich mich hier kein bisschen fremd. Alles sieht aus, wie zuhause, selbst der Tinnef der Straßenhändler ist ungefähr derselbe wie in Santiago, Manchester oder Yogyakarta. Das ist der Virginia-Effekt: Immer wieder erscheint mir alles hier auf den ersten Blick sehr vertraut; die Städtchen etwa wie eine Mischung aus englischer Provinz und dem hügeligen Süden Ostdeutschlands - und auch die Natur, die Pflanzen, die Tiere, muten scheinbar bekannt an. Erst wenn man die Details genauer betrachtet, stellt man fest, dass hier vieles doch sehr anders aussieht, riecht, schmeckt, klingt und funktioniert. Das ist also der amerikanische Trick, mit dem man arglos ins Unbekannte gelockt wird.
  Am nächsten Morgen frühstücken wir zeitig und deftig (Johns Feta-Spinat-Omelette ist ein Gedicht) und fahren dann mit dem Auto hinauf ins sonntäglich stille Washington: Die Männer besuchen Johns Mutter in der Nähe, aber vorher laden sie mich – nach einer geschungenen City-Highway-Ehrenrunde um das Washington Memorial, das Pentagon, das Lincoln Memorial bis zum Holocaustmuseum  - am nationalen Reagan-Airport ab, denn für mich ist es Zeit, in den Südwesten nach Colorado weiterzuziehen. Es ist sonnig, aber windig und kühl… Im Flughafen geht alles wortlos und rasch, nur ich falle auf, weil ich die allgemeinen Gepflogenheiten nicht genau kenne (weil ich brav deutsch auf Anweisungen des Personals warte, die aber nicht kommen); aber alles wird gut und bald schon schlummere ich friedlich in meinem Flugzeugsitz nach Houston, Texas. Dort habe ich nur eine halbe Stunde Zeit, meinen Anschlussflug zu finden und zu erreichen, aber auch das ist kein Problem, alles ist hier wohlgeordnet und, nun ja, idiotensicher organisiert und obwohl der Flughafen riesig ist und ich mit einer Schienenbahn zwischen den Terminals wechseln muss, läuft alles ganz entspannt – dies ist definitiv ein großes Land und Binnenflüge sind offenbar kaum mehr etwas anderes als technisch erweiterte Fernbusreisen.

Vor der Landung in Colorado Springs wird mir beim Blick aus dem recht kleinen Flieger der Kontrast klar: Draußen dehnt sich eine ausgedörrte braune Ebene, hier und da graue Häuserdächer und weiße Flecken wie Salzpfannen. Breit und dunkel wie Graphit über dieser endlosen Weite dehnt sich hinten eine mächtige Bergkette unter der Sonne über den gesamten Horizont: Die Rocky Mountains ziehen herauf. Wir sind 2000 über dem Meeresspiegel, Land und Luft sind klar und trocken wie Zunder. Oben auf den Berggipfel kann man schon den Puderzucker des Schnees erkennen. Ehe ich mich noch wundern kann, wie einfach der Flug doch insgesamt war, haben mich im weitläufigen Flughafengebäude mit seinen tausend runden Buchten und Fluren Teresa und Wolfgang entdeckt und begrüßten mich wie einen familiären Gast (das tut in der Fremde doch recht gut). Mit dem Auto, ohne das man in dieser weitläufigen Stadt (mehr als 40 Kilometer in der Breite, meint Teresa) verloren ist, fahren wir hinüber zu ihrem Haus, das sich neben einer Hauptstraße wie ein Cottage hinter ein paar Bäumen versteckt, auf denen graue Squirrels ihr Unwesen treiben. Hier ist alles horizontal und weit, als hätte jemand mit dem Photoshop-Cursor die gesamte Realität in die Breite gezogen! Auch in Wolfgang und Teresas Haus ist sehr viel Platz (ca. 600 qm für zwei), es gibt eine lichtdurchflutete amerikanische Küche mit riesigem Kamin, einen Partykeller mit Schach, Billard und sportlichen Foltergeräten, und in der oberen Etage bekomme ich ein geräumiges Zimmer mit Bad und eigener Kleiderkammer. Später fahren wir Downtown zu „Poor Richard“, um in seinem gemütlichen Café mit angeschlossenem Buchantiquariat (mit Extraregal "local poets", wow) etwas zu trinken und Pizza zu essen, für die man sich die Belagzutaten einzeln und für jedes der gigantischen Sechstel anders zusammenstellen kann. Es gibt viel zu erzählen und zu diskutieren: Anders als die „typischen“ Amerikaner brennen Teresa und vor allem Wolfgang darauf mit mir über Politik, Geschichte und Kultur zu debattieren – all die Themen, die man hier normaler Weise eher erst dann offen anspricht, wenn man sich sehr gut kennt und vertraut. Ich erfahre, dass mein Programm an der University of Colorado morgen mit zwei interessanten Terminen beginnt: Mittags ein Arbeits-Lunch mit einigen versammelten Dichtern, Denkern und Professoren der Stadt, die derzeit versuchen, hier ein European Studies Departement zu etablieren und abends dann ein Poetry Reading mit Dozenten und Studenten – in einer alten Farm hinter dem Universität-Campus, auf der es auch Klapperschlangen gibt.

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