Mittwoch, 14. November 2012

CHILE Blog (2 - Ankunft in Santiago)


Santiago de Chile - Dienstag, 13. November

Früh am Morgen verschwindet Julio zur irgendeinem dienstlichen Außentermin. Mein Radio-Interview verschiebt sich um einen Tag, sodass ich endlich Zeit habe mal ein wenig zu bummeln (das erste Mal auf dieser Tour); also ausschlafen, duschen, lesen, schreiben, Gepäck sortieren, einkaufen gehen usw.; Julio hat ausgezeichneten guatemaltekischen Bauern-Kaffee, den ich in großen Tassen zu mir nehme während draußen in der heißen Sonne der Verkehr von Santiago um das Haus braust (einmal dachte ich deswegen gar, ich hätte die Dusche angelassen). Den Mittagsimbiss hole ich mir im Kiez-Lebensmittelladen nebenan.
Nachmittags mache ich mich auf den Weg in die Stadt, ich bummele in der trockenen Hitze des Tages langsam Richtung Zentrum und genieße das südländische Flair dieser Gegend, in der es besonders viele Privatuniversitäten und kleinere Banken zu geben scheint. Schließlich steige ich hinab in die Metro, um etliche Stationen bis ins Herz der Stadt zu fahren. In einer ruhigen Seitenstraße finde ich die Universidad Diego Portales. Nach einer Minute Wartezeit braust Julio in seinem blauen Zauber-Suzuki heran und wir betreten die angenehm kühle und helle Universität, die mir wegen ihrer fröhlichen Farben fast wie eine Grundschule vorkommt. An den Wänden hängt hier und da ein Poster mit meinem Konterfei, daneben dunkle Gedächtnisposter für einen Dozenten, der vor einem Monat bei einem Sturz in den Fahrstuhlschacht dieses Gebäudes starb. 

 
Wir besuchen Rodrigo Roja, den Leiter der Abteilung Kreatives Schreiben, in seinem Büro, später treffen wir auch Prof. Kurt Folch, den Chef der Fakultät. Beide gehen mit uns in das Seminar für literarisches Übersetzen, bei dem ca. 12 Studenten mit Julios Übertragungsentwürfen von vier meiner Gedichte konfrontiert werden. Bei Keksen und wilden Diskussionen zerpflücken sie gemeinsam meine „Malaria“, wobei mir besonders zwei Jungs auffallen, die meinen deutschen Text offenbar noch genauer lesen als Julio und ihn mehrfach auf raffinierte Wendungen aufmerksam machen, die schon im Deutschen schwer zu verstehen sind – und dies, obwohl sie kein Deutsch können und nur die autorisierte englische Fassung als Hilfe haben. Nach anderthalb Stunden ist natürlich noch nicht einmal dieses Gedicht fertig besprochen; alles in allem habe ich von den Disputen auch nicht sehr viel verstanden, aber das Seminar ist zuende, wir plaudern noch ein wenig mit den Dozenten und brausen dann mit den himmelblauen Zaubersuzuki zurück nach Hause.

 
Abends schwingen wir uns auf die Räder und radeln um die Ecke, um Ingrid abzuholen. Das sie eine besondere Person ist, wird sofort klar, wenn man sie selbstbewusst und anmutig aus ihrem Wohnblock treten sieht: mit Kleid, Tuch und Tasche in unauffälligen, aber femininen Pastellfarben tritt sie als mädchenhaft-zerbrechliche Lady auf, deren Alter schwer zu schätzen ist. Selbst ihr Fahrrad passt auf dezente Weise zu diesem unaufdringlichen, aber überzeugenden Stil. Ingrid Isensee spricht Deutsch, aber sie hasst ihren „Oma“-Namen (vollständig: Ingrid Karina Isensee) und all dies verdankt sie irgendwelchen ihr ziemlich fremden germanischen Vorfahren, die ihre Eltern mit der Erziehung in ewigen Ehren halten wollten. Ingrid ist eine angesagte Filmschauspielerin (in einem deutschen TV-Film über Chile hat sie u.a. vor einiger Zeit die junge Hannelore Elsner gespielt), aber vor allem spielt sie im chilenischen Gegenwartskino. Fröhlich, unprätentiös und ein wenig melancholisch radelt sie mit uns durch das dämmernde Santiago und ringt um vergessene deutsche Vokabeln. 

 
Wir alle sind eingeladen zu einem Freundschafts-Essen bei Alicia, einer chilenischen Filmregisseurin, anlässlich des Besuches eines italienischen Filmemachers, Alessandro, der demnächst im Süden Chiles einen Road-Movie über zwei italienische Homosexuelle drehen will... Etliche chilenische Aktivisten der hiesigen Filmszene nehmen teil an der lockeren Wohnzimmer-Zusammenkunft, bei der es indisches Essen aus Töpfen vom Tischbuffet gibt. Die Gespräche sind atmosphärisch familiär und wirklich interessant (unter anderem mit der französischen Sängerin der in Chile und Frankreich sehr populären Rockband PANICO, die gerade einen Experimentalfilm in den nördlichen Wüsten Chiles abgedreht haben…); besonders spektakulär jedoch ist die Aussicht von Alicias Balkon auf den schier endlosen Sonnenuntergang über dem abendlichen Zentrum Santiagos ...


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