Mittwoch, 25. April 2012

besuch bei david


man öffnete uns die stillen paläste
die alten brücken mieden wir
unter denen der arno so dunkel
dahinfloss & darüber die menschen


die restauration des frühlings
wie der venus waren gelungen
nur die frauen waren männer mit
angeklebten brüsten aus marmor


in der kathedrale gab es nichts
zu bestaunen außer uns selbst
es dauerte eine weile bis wir das
begriffen im gigantischen licht


dann das nächste festmahl und die obligate
reverenz an die schönheit des steins
eine gute gelegenheit
für selbstmörder rief sie lächelnd 


hinab in den lichthof der
galleria dell‘accademia



Montag, 23. April 2012

10 Gründe, warum man "Die Piraten" nicht wählen kann ...


***

1) Weil sie  geistige Produkte - sprich: die komplexe Arbeit von Autoren, Künstlern, Journalisten, Wissenschaftlern usw. - für vom Himmel fallendes Gemeineigentum halten. (Wo immer es ihnen  gefällt, wollen sie deren geistiges Eigentum unentgeltlich nach Gutdünken verteilen - juristisch nennt man das mindestens Enteignung, im Klartext Raub, faktisch zerstört es private Existenzen wie kulturelle Grundressourcen unserer Gesellschaft).

2) Weil sie ihre Lebenserfahrung zumeist vor dem Bildschirm gemacht haben und nun meinen, sie könnten und müssten diese Regeln der virtuellen Welt auf die Realität übertragen.

3) Weil ihnen echte politische Krisen und Konflikte komplett egal sind - statt z.B. gegen das Morden in Syrien setzen sie sich lieber gegen das Verbot von Killerspielen ein, statt Konzepten für Europa entwickeln sie lieber welche für das kostenlose Downloaden von Disneyfilmen.

4) Weil sie Kompetenz und Struktur in ihrer eigenen Politik ablehnen und unsere Gesellschaft stattdessen in eine tägliche Castingshow mit 82 Millionen Bildschirm-Experten als Dauerjury verwandeln wollen, die über jedes Aufstellen eines Straßenschildes und jedes Fingerschnipsen eines Verantwortlichen gemeinschaftlich abstimmen, wachen & strafen soll.

5) Weil sie "Transparenz" für eine absolute Größe halten -> so lange es nicht ihr eigenes Leben betrifft...  

6) Weil sie (im krassen Widerspruch zu 5) die Anonymität im Internet für eine gerechte Sache halten - die Freiheit der Rede wollen sie vor allem dann schützen, wenn sie mit keinerlei Verantwortung verbunden ist.

7) Weil sie alles haben, aber für nichts verantwortlich sein wollen. (Piraten haben viel zu meckern, aber bislang politisch keine Alternativen anzubieten. Das nennt man gemeinhin destruktiv.)   

8) Weil sie bei allem mitbestimmen wollen, aber von nichts eine Ahnung haben - und dies auch gar nicht für nötig halten.

9) Weil sie "Star Trek" für eine brauchbare Zukunftsvision halten, "Tetris" für Weltkulturerbe und "Herr der Ringe" für Hochkultur...

10) Weil ihnen Informationen mit mehr als 140 Zeichen Kopfschmerzen bereiten!


UND: Weil unsere Gesellschaft keine virtuelle Kinderfaschingsparty ist...
;-)


PS: Hoffen wir, dass diese sympathisch-chaotische Protestbewegung des Bildschirmmobs und anderer politisch Obdachloser gegen die Komplexität der etablierten Politik ihre derzeit enthusiasmierten Anhänger auf ihren Weg zu einer echten Partei in einen politischen Lernprozess einbinden kann und so ein positives Potenzial für unsere Gesellschaft entfaltet... Im Moment schwingt leider auch die Gefahr einer populistischen "Entstrukturierung ohne Notwendigkeit" mit, sprich: Deutsche Politik wird entgegen den Intentionen der "Piraten" durch ihre Konzeptlosigkeit noch komplexer und unberechenbarer, weil die Piraten überall klare Mehrheiten verhindern und mit ihren wild "schwankenden Inhalten" dauerhaft rein destruktiv wirken, statt Alternativen anzubieten - die bis jetzt noch komplett fehlen... Dennoch sind sie ein wichtiger Indikator für den politischen Zustand eines nicht unerheblichen Teils unserer Gesellschaft - und verdienen eben deshalb eine ernsthafte Auseinandersetzung.

Sonntag, 22. April 2012

Dietmar Dath & Co retten den Kommunismus (oder was sie dafür halten)

DAS KONVOLUT – zwei befreundete Oberseminaristen bei Lockerungsübungen auf dem Abenteuerspielplatz neomarxistischer Theorieerzeugung

"Wir haben das Ende des Fortschritts im Westen noch persönlich erlebt. Das war vor etwa zwanzig Jahren…" (Dath & Kirchner, DER IMPLEX)

Der Grundansatz dieses Papierziegels ist durchaus originell: Ausgehend von einem Begriff des französischen Autors Paul Valéry bezeichnet „der Implex“ bei Kirchner und Dath die einer bestimmten gesellschaftlichen Situation stets auch innewohnenden potenziellen Möglichkeiten und Handlungsalternativen – damit verabschieden sie sich immerhin vom althegelianisch-marxistischen Denkmuster der „Gerichtetheit von Geschichte“: Sozialer Fortschritt als Frage der Handlungswahl der gesellschaftlichen Akteure, nicht der äußeren Vorgaben. Neues linkes Nach- und Weiterdenken wird also angekündigt, das macht neugierig und stimmt den aufgeschlossenen Leser hoffnungsfroh. Dath und Kirchner, seit ihren westdeutschen Schultagen in den Achtzigern einander schreibend wie im öffentlichen linkspolitischen Denken verbunden, wollen erkunden „ob so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht und, wichtiger, gemacht werden kann“.  In der Tat könnte es lohnend sein, altbekannte linke Denkpositionen auf ihre Verwendbarkeit für aktuelle kapitalismuskritische Handlungsweisen zu überprüfen und sie für unsere Zeit und Zukunft weiterzudenken.
  Doch leider, leider wartet auf den fast 900 Seiten vor allem schwer lesbare, bedeutungsheischende Oberseminaristenprosa mit Poptheorieglasierung - und wenig Erkenntniszuwachs. Kurze Kostprobe zur Einstimmung: „Der zu explizierende Implex geschlagener partikularer Emanzipationsbewegungen ist nichts anderes als die praktische Option antipartikularer Solidarität.“ (Schlusssatz des Abschnitts „Sieg und Niederlage der Emanzipation“ S. 191). Weniger mit einem systematischen Durchdenken von Geschichte und Idee des sozialen Fortschritts als vielmehr entlang bestimmter Schlüsselbegriffen (Arbeit, Frauen, Natur, Gemeinwesen, Revolution, Krieg etc. pp.) wird  - weitgehend eurozentrisch - über Geschichte und Gegenwart assoziiert, zitiert und theoretisch fabuliert was das Papier hergibt, wobei starke Passagen ein unüberschaubares Konglomerat mit Belanglosem und Halbgarem bilden.
  Die inhaltlich durchaus anregende Überfülle an Angedachtem kann und muss hier nicht wiedergegeben werden. Bemerkenswert jedoch beispielsweise: Im Kapitel „Hexis als friedliche Gewalt“ verabschieden sich die Autoren quasi nebenbei vom akademisch hochpopulären Denkmuster der „sozialen Konstruktion“ (z.B. von Herrschaftsstrukturen, Geschlechterrollen etc.) und erklären eben diesen menschlichen Hang zum sozialen Konstruieren als eingeborene humane Eigenschaft, mithin naturgegeben, und die „Debatte Nature versus Nurture“ (Natur gegen Erziehung) zu einem „ermüdenden Scheingefecht“. In der Gesamtschau wirkt das Buch wie eine aus dem Ruder gelaufene und nicht zu Ende gebrachte wissenschaftliche Pflichtarbeit, deren Lücken und lose Enden man (entlang der multifunktional einsetzbaren Implex-Idee)  mit einer Vielfalt von disparaten Textsträngen und unterhaltsamen Denkexkursen verfüllt hat, um dann mit einem bestimmten Begriffsvolumen den Eindruck von Geschlossenheit und Bedeutung erreicht zu haben. Dies enthält eine Menge origineller Ideen und Gedankengänge, leider aber ebenso viel Halbgares und groben Unfug. Nur: Dieses beredte Buch enthält letztlich weder eine ernstzunehmende Geschichte des sozialen Fortschritts, noch – außer allerlei pseudokonsequentem Begriffsfirlefanz und einem bunten Sammelsurium an anregenden Geistesblitzen - brauchbare Vorschläge oder gar Konzepte für kommende soziale Bewegungen.
   Abgesehen davon, dass den Autoren wie dem Lektorat hier und da die Übersicht über manch gestelzte Satzkonstrukte entglitten ist: Selten bekommt man die Attitüde innovativen Denkens in solch altbackenem Begriffsgeschwurbel vorgesetzt. Stellenweise ergibt sich der fast schon rührende Eindruck, dass hier Denk- und Sprechweisen einer längst vergangenen Szene konserviert und perpetuiert werden wollen, deren Zeit – siehe Eingangszitat – vor ungefähr zwanzig Jahren zu Ende war. Diese gewissermaßen linkssentimentalen Texte kommen abwechselnd im substantivischen Belehrungston marxistischer Klassiker, im größenwahnsinnigen Duktus von RAF-Weltrettungsmanifesten oder im szenig-akademischen Sound kulturfeuilletonistischer Bedeutungsanalysen daher, öfters auch in allem zugleich: Theoretischer Neomarxismus meets postulierenden Popdiskurs. Stilistisch leider eine ziemlich unbekömmliche Mischung!
   Der „Versuch, die Geschichte nicht allein dessen, was wirklich geschehen ist, sondern auch dessen, was möglich war, zu erzählen…“ enthält, zieht man die bedeutungshubernde Überwältigungssprache einmal ab, viel erschreckend banal-naive Wunschzettelprosa darüber, wie die Welt am besten „eigentlich sein müsste“, aber wenig Brauchbares zur Erlangung all jener sattsam bekannten hehren Menschheitsziele wie Frieden, Gerechtigkeit usw. - außer vielleicht der Einsicht, dass sozialer Fortschritt heuer auch ohne klar umrissene Ideologie „gedacht werden kann“. Die geistigen Schlussfolgerungen nach über 800 Seiten Parforceritt durch die bunten Geschichten des „was wäre wenn“ lauten dann beispielsweise: Lohnarbeit „verdient nichts Besseres als die Aufhebung“. Mhm. Oder dies: „Der Zugang einer möglichst großen Anzahl von nicht erpressten, nicht erpressbaren Leuten zu Maschinen, die Energie und Information herstellen, speichern, übermitteln, verschlüsseln oder explizieren sowie die Verhältnisse der Umwandlung, Implikatur, Explikation zwischen Energie und Information eichen, bestimmen, verändern können, ist gesellschaftlich einzurichten und zu schützen.“ („Gesichtskreise des Fortschritts“ S. 811f) Das Buch, man mag es kaum glauben, endet schließlich mit folgender fanfarenhafter Forderung an Leser und Menschheit: „Das Unrecht… schätzt keine Überraschungen … Es Muss weg, wo Menschen als Menschen leben wollen.“ (S. 835 - danach folgt der Appendix.)  
   Aha. Nun ja. Da werden wohl einige zustimmen können. Es keimt der Verdacht, dass dieses Buch kaum dazu gedacht wurde, tatsächlich etwas Allgemeingültiges über den sozialen Fortschritt mitzuteilen und vorzuschlagen, als vielmehr Bedeutungstaub und abzuarbeitendes neues Theoriefutter für bestimmte akademische Zirkel zu liefern, denen längst der Nachschub an diskutierenswertem Papier ausgeht. (Dafür spricht u.a. auch die Vorbemerkung der Autoren, dieses würde Buch wohl vor allem denjenigen etwas geben, die ihre „politische Zielsetzung ohnehin teilen“ – ein Spezialdiskurs für Eingeweihte im 900-Seiten-Taschenbuch bei Suhrkamp also.) Vielleicht aber träumt der umtriebige Endlos-Vordenker Dietmar Dath heimlich ja auch von einer künftigen, blau gebundenen Gesamtausgabe seiner Werke, die dereinst die (virtuellen?) Regale kommender Marxisten-Dathaisten-Generationen zieren soll - wie weiland in den rot-goldenen Siebzigern die MEGA, die legendäre Marx-Engels-Gesamtausgabe – gern auch mit Schreib-Genossin Barbara Kirchner als „neuer Engels“…? Solche Bücher sind wahrlich noch viele denkbar; das Prinzip linkstheoretischer Erbauungslektüre ist in Krisenzeiten wie der unseren durchaus ausbaufähig. Als Antwort auf die Frage, ob die Lektüre lohnt, gilt vielleicht auch für dieses launige Konvolut aktueller Rettungsdiskursgeschäftigkeit: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“ (Karl Marx, Feuerbachthesen, MEW 3:7.) - Das ist also auch nichts Neues.

Dietmar Dath, Barbara Kirchner: Der Implex, Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, 880 Seiten, ISBN: 978-3-518-42264-9, 29,90 Euro Suhrkamp/Insel Berlin 2012

Donnerstag, 5. April 2012

Günter Grass und die Anti-Antisemitisten

Die mediale Häme, die sich gerade über Günter Grass ergießt, ist maßlos und ein interessantes Symptom für das politische Denken vieler Deutscher. Zwar habe ich mich selbst oft über unseren größten lebenden deutschen Agitprop-Dichter geärgert (im Sommer 2006 sagte ich ihm auf einem öffentlichen Schriftsteller-Podium beispielsweise, wie nervig es sei, dass er der Welt immerfort stellvertretend erklärt, was wir Ossis angeblich alles dächten und fühlten - sogar wenn wir direkt neben ihm sitzen! - als ob wir nicht selbst für uns sprechen könnten...) - aber was aus Anlass seines israelkritischen Gedichtes "Was gesagt werden muss" nun an grobem Unfug und heuchlerischer Besserwisserei über den alten Friedens-Kempen ausgeschüttet wird, sagt viel über den Zustand unseres geistigen Mainstreams (und wenig über Günter Grass).
  Grass ist bewusst kein Diplomat - und politisch ist nicht alles der Weisheit letzter Schluss, was der große Dichter aus dem letzten Jahrhundert will und äußert. Kann schon sein, dass er sich auch mit diesem Gedicht literarisch diffus (und mit solch politischer Gebrauchspoesie ohnehin wenig Literaturnobelpreis-verdächtig) äußert.
  Aber in der Sache gebührt ihm Respekt! Schon deshalb, weil alle, die genau diese Diskussion fürchten müssen, nun schnell auf die Person Grass, statt auf sein wichtiges Thema abheben - ach was: im großen Chor aufjaulen! Und unser Lieblings-Maulheld, gut bezahlter Papierrebell und nachholender Widerstandskämpfer Henrik M. Broder - der einst mit einer unsäglichen Spiegel-Kampagne die Existenz des Schriftstellers Thor Kunkel mittels Zitieren gestrichener (sic!) Manuskriptpassagen aus einem noch nicht veröffentlichten (sic!) fantastischen Roman ("Endstufe") mit der unbesiegbaren Antisemitismuskeule triumphal zerstörte - führt wie immer das unsterbliche Heer der ewig Gerechten an, für die jegliche Kritik an Israel automatisch Antisemitismus mit eindeutigem Fascho-Kern ist... Das Motto dieser Leute, "Wer Israel meint, meint die Juden", unterschlägt, dass im Staate Israel eben beileibe nicht nur Juden leben. Und nicht jeder, der klar auszusprechen wagt, dass Israels Politik nicht immer nur dem Weltfrieden dient, ist ein seniler Antisemit.
  Grass bedauert zu recht das Spiel der israelischen Außenpolitik mit dem Feuer eines Erstschlag-Kriegs mit dem Iran. Denn während der Iran verbal aufrüstet und dessen Atomprogramm bislang nur vermutet werden kann (wir erinnern uns noch deutlich der vergleichbaren "Massenvernichtungswaffen" als Angriffsgrund für den Irak), weiß jeder um die atomare Ausrüstung Israels mit seiner Schutzmacht USA nebst deutscher Zulieferung an atomwaffenfähigen U-Booten. Dass sein Gedicht dabei nicht diplomatisch ausgewogen argumentiert, sondern einen akuten Aspekt des Problems besonders akzentuiert, ist legitim, es handelt sich schließlich nicht um einen offiziellen Staatsvertrag. Grass kritisiert nicht die Existenz Israels, sondern dessen aggressive und unausgewogene Außenpolitik gegenüber dem Iran. Und die deutsche Unterstützung dafür! Wenn Grass deswegen ein Antisemit ist, bin ich es auch. (Und zwar, obwohl einige meiner Freunde Semiten, d.h. Araber wie Juden, sind. Israel ist übrigens nicht "die Semiten" - auch wenn ein Teil des auserwählten Volkes, und sein unheilig-deutscher Möchtegernprophet Broder, das ganz fest glauben...) Auch da, wo man nicht mit Grass übereinstimmt, sollte man ihm doch seine Position zubilligen und sich angemessen damit auseinandersetzen, anstatt wie wild die Moralkeule zu schwingen oder ihn als politisch ungenügend gebildet zu denunzieren. Wieso halten wir Deutschen es eigentlich nach wie vor kaum aus, wenn einer mal etwas anders meint, als es der allgemeine Herdenkonsens gerade für opportun hält?     
  Es bleibt zu vermuten, das Grass mit dieser heftigen und unerfreulichen Reaktion gerechnet hat. Dass er sie dennoch provoziert und riskiert hat, zeigt, wie sehr ihm offenbar die in seinem Text beschriebene Gefahr unter den Nägeln brennt. (Eine kluge Verteidigung des Gedichts von Thomas Anz gegen seine Kritiker findet sich übrigens HIER.) Ob man Grass zustimmt oder nicht, seine Sorge ist aufrichtig, thematisch legitim und keineswegs unerheblich. Deswegen gebührt dem politischen Autor in jedem Fall Aufmerksamkeit und Respekt!
  Doch die heftige öffentliche Reaktion zeigt deutlich, dass wir neben einer weniger reflexhaft unkritischen Haltung zum Staat Israel und seiner mitunter innen wie außen für die ganze Welt problematischen Politik bei uns dringend auch eine gesellschaftliche Begriffsklärung darüber brauchen, was "Antisemitismus" im Deutschland von heute tatsächlich bedeutet - bzw. ob alles, was derzeit mit diesem aus historischen Gründen geradezu irrational aufgeladenen Label gebrandmarkt wird, auch automatisch und ohne jedes Nachdenken und Diskutieren verbrecherisch und verdammenswert zu nennen ist. Was derzeit in den Zeitungen über Grassens unsachliches Gedicht als (vorgeblich sachliche) Auseinandersetzung damit zu lesen ist, ist zu großen Teilen nicht weniger Agit-Prop. In unseren Köpfen ist der II. Weltkrieg offenbar noch längst nicht bewältigt, wie wir immer gehofft hatten. Grass macht uns darauf aufmerksam, dass genau dies den Keim für einen dritten in sich trägt. Eine unbequeme Wahrheit, die vor allem unser deutsches Selbstbild von der vollendeten Läuterung infrage stellt... Vielleicht sind ja deswegen die Reaktionen so heftig?

Dienstag, 3. April 2012

JAZZ

Das ist das Geheimnis des Jazz:
Der Bass bricht dem erstarrten Orchester aus.
Das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder.
Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam.
Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur:
Bebt, Gelenke: wir spielen ein neues Thema aus
Wozu ich fähig bin und wessen ich bedarf: ich selbst zu sein -
hier will ich es sein: ich singe mich selbst.
Und aus den Trümmern des dunklen Bombasts Akkord
Aus dem kahlen Notenstrauch reckt sich was her über uns
Herzschlag Banjo, Mundton der Saxophone:
Reckt sich unsere Harmonie auf: bewegliche Einheit -
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema.
Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer!
Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich:
Und mit keinem verbünden wir uns, der nicht er selber ist
Unverwechselbar er im Hass, im Lieben, im Kampf.

(Volker Braun 1965)