Samstag, 11. Februar 2012

Die griechische Tragödie (2)


9. Februar, Sonne am Morgen: links vom Balkon die freundliche Hafenbucht von Volos von der man sagt, dass hier einst die Reise der Argonauten begann. Rechts schneebedeckte Berge über der weiß verschachtelten  Stadt:  Das ist der Pylion, der lokale Bergzug der Halbinsel im thessalischen Gebirge, in dessen Wäldern die Zentauren hausten (Anastasia sagt, wenn man lange genug sucht, kann man noch welche finden, sie sprechen aber nur Altgriechisch – ein Glück, dass ich das mal an der Uni gelernt hab).  Der für heute befürchtete viele Schnee ist ausgeblieben, stattdessen in den engen Straßen Seewind sowie hier und da zwischen den parkenden Autos Granatapfelspaliere mit trockenen oder geplatzten Früchten und überall Orangenbäume voller leuchtender Früchte. Apostolia meint, das seinen allerdings keine Orangen, sondern bittere Nefrangen (nie zuvor gehört, keine Ahnung, wie man das schreibt), eine ungenießbare Urform der Orangen, aus denen man aber Süßigkeiten machen kann. (Ich wills kaum glauben, aber es wird wohl stimmen.)
  Wir fahren in ein Gymnasium ein Stück die Stadt hinauf Richtung Berge. Eine dreistöckige Neubauschule umschließt dreiseitig den Schulhof, auf dem gerade eine Klasse in Wintersachen Gymnastik macht.  Im unbeheizten Deutschraum werden wir auf abgeranzten Kindermöbeln empfangen. Die lokale Deutschlehrerin, die wir in der Pause kennenlernen, hat als Grundschülerin in Lippstadt gelebt und später in Thessaloniki Deutsch studiert, sie sagt, hier lernen mindestens die Hälfte der Gymnasiasten Deutsch als zweite Fremdsprache, denn sie hoffen später Medizin oder Jura in Deutschland studieren zu können. Außerdem gilt Französisch als Mädchensprache und deutsch als männlich – deswegen sind die Jungs geschockt, wenn sie im Unterricht erfahren müssen, dass man auch im Deutschen lächerlich peinliche Laute wie „Ü“ oder „Ö“ erlernen muss. Die griechischen Lehrerinnen haben Kuchen für uns gebacken und Anastasia fragt mich spitz, ob ich mit ihrer „voluntarily work“ zufrieden sei.
  Abends kurzer Spaziergang zum nahen Kai, die Stadt sieht insgesamt frisch, modern und belebt aus: Im Dämmer schaukeln weiße Boote und Yachten, in der Ferne der weiten Bucht ein Wirtschaftshafen, aber nichts scheint überkandidelt, die saisonbedingt geschlossenen Seehotels machen einen soliden, freundlichen Eindruck. Zwar scheint es hier null Prozent Antike und hundert Prozent Gegenwart zu geben, auch die wenigen Basiliken auf den kleinen Plätzen sind neu, die Straßen sind engbebaut, die überall vorherrschende Farbe ist ein verwaschenes Weiß, aber alles wirkt belebt, entspannt und im rechten Maß, selbst der Feierabendstau auf der Uferhauptstraße. Im Abendwind fliegen still ein paar Krähen landeinwärts, eine Gruppe Möwen kreuzend.
  Abends in  der Kneipe hervorragendes Zitronenschwein, Wein in Kannen und Bouzoukimusik: Zwei junge Männer singen sich den Abend über die Seele aus dem Leib. Alessio kann mir auch nicht erklären, was mit den Italienern los ist; aber er sagt, er fühlt sich schuldig, dass seine Generation so tatenlos zusieht, wie sich nichts ändert. Er ist eigentlich Verfassungsrechtler, jetzt erforscht er soziale Verhältnisse in italienischen Gefängnissen. Die Griechen und Zyprioten sitzen heute alle am Ende der Tafel zusammen, um nicht mit uns diskutieren zu müssen: Gegen Mittag hat die griechische Regierung gegenüber der EU kapituliert und ist auf nahezu alle enorm restriktiven Forderungen eingegangen, um die nächsten Subventionen zu erhalten, die allein den sicheren Staatsbankrott abwenden können. Für die nächsten zwei Tage ist deswegen ein landesweiter Generalstreik angesagt – wenn wir Pech haben, fahren nicht mal die Busse nach Thessaloniki, geschweige denn, dass am Samstag unser Flugzeug abheben wird.

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